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Flüchtlinge: Der lange Treck nach Norden


Zehntausende Afrikaner brechen jährlich nach Europa auf - Sie haben nur einen Wunsch: irgendwo neu anfangen zu können. Bericht über die Schicksal vieler junger Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben.

"Ein Schiff mit rund 250 afrikanischen Flüchtlingen an Bord ist am Freitag vor der tunesischen Küste gesunken. Bislang wurden fünfzig Tote geborgen", meldete die Nachrichtenagentur AFP vor einer Woche. Im Mittelmeer, vor allem vor der spanischen und italienischen Küste, werden immer öfter Schiffe mit illegalen Immigranten aufgebracht. Und diese haben noch Glück gehabt. Viele ihrer Leidensgenossen, die um jeden Preis nach Europa wollen, erreichen ihr Ziel nie. Sie ertrinken im Mittelmeer.

Ein weiter Weg, mit unendlich viel Leid gepflastert

Was treibt diese meist jungen Menschen dazu, ihr Leben auf einer gefährlichen Wanderschaft aufs Spiel zu setzen? Wie unerträglich ist das Schicksal tausender Schwarzafrikaner, die jährlich ihr Leben riskieren? Sie ziehen durch die Sahara nach
Algerien und Marokko, mit einem einzigen Ziel: Europa. Der Traum, es irgendwann auf die andere Seite des Mittelmeers oder nach Amerika zu schaffen, spukt in den Köpfen fast aller jungen Afrikaner beiderseits der Sahara. Einigen wenigen gelingt
die Einreise per Flugzeug - mit echten oder gefälschten Papieren. Aber die meisten machen sich zu Fuß auf einen Weg, der mit unendlich viel Leid gepflastert ist. "In einer Welt der Gewinner und Verlierer verschwinden die Verlierer nicht einfach wie
durch einen Zauber; sie suchen eine neue Chance anderswo", heißt es im Jahresbericht 2000 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO).

Um diesen Exodus zu verstehen, hilft zunächst der Blick auf das Durchschnittsalter der Bevölkerung im Afrika südlich der Sahara: Es beträgt 17,6 Jahre. Um diese Massen von Jugendlichen aufzufangen, wäre eine rapide wirtschaftliche Entwicklung nötig. Die meisten Sahelländer gehören jedoch zu den ärmsten Staaten der Welt. Noch dazu war während des vergangenen Jahrzehnts in vielen das Bruttoinlandsprodukt rückläufig - im Fall des Niger etwa um 37 Prozent.

Dazu kommen eine drückende Schuldenlast, die einen großen Teil der Exporterlöse wieder auffrisst, die Aids-Epidemie - sie lässt die wirtschaftlich aktive Altersgruppe einfach wegstreben - und schließlich zahlreiche Konflikte und Bürgerkriege. Einer
von fünf Afrikanern lebt in einer Krisensituation! Kein Wunder also, wenn junge Menschen nur einen Wunsch haben: Raus aus dem Elend und irgendwo neu anfangen.

Viele der ärmeren Immigranten kommen aus den Sahelländern Mali, Senegal und Niger, die zu den ärmsten Ländern der Welt gehören. Armut und Krieg sind jedoch nicht das einzige Motiv. Es gibt auch Afrikaner auf dem Marsch nach Norden, die
aus finanziell besser gestellten Familien stammen. Das Satellitenfernsehen mit seinen Shows und Soap-Operas gaukelt ihnen eine Traumwelt der totalen Freiheit und des Überflusses vor. Wie die Goldgräber in Charlie-Chaplin-Filmen suchen sie das
große Glück. Sie hoffen, irgendwann einmal als reicher Gönner der Großfamilie zurückzukehren.

Oft sind dies Menschen mit einer guten Ausbildung, die in ihrem Heimatland keine Karrieremöglichkeiten sehen und in den Industriestaaten eine bessere Perspektive suchen. Manche werden sogar von Freunden oder ihrer Familie unterstützt, die ihnen per "Western Union Bank" finanzielle Hilfe zukommen lassen, wenn sie auf der Strecke geblieben sind. Mit leeren Händen - oder als Student ohne akademischen Titel - heimzukommen, ist dann eine umso unerträglichere Schande. Sie macht eine Rückkehr eigentlich undenkbar.Der Exodus nach Norden ist teuer und beschwerlich. Die Tuareg haben ein Monopol als Schlepperbanden. Sie lotsen die Auswanderer gegen gutes Geld auf überfüllten Geländewagen durch die Wüste. Ein
junger Auswanderer aus Mali dazu: "Um hierher zu kommen, mussten wir eine unendliche Sandwüste überqueren. Mit Gottes Hilfe haben wir es in fünf Tagen geschafft. Im Landcruiser waren wir 32 Menschen, einer auf dem anderen sitzend und der
brennenden Sonne bei Tag, der Kälte bei Nacht ausgesetzt."

Zuverlässige Statistiken gibt es nicht

Irgendwo, viele Kilometer vor der ersten Stadt, wird die menschliche „Fracht“ ausgeladen. Was bleibt, ist ein langer und manchmal tödlicher Marsch durch die Wüste. "Wenn jemand auf dem Weg stirbt, dann kommen die Schlepper zurück und
rauben ihn auch noch aus." Auf dem Weg an die Küste wartet überall die Polizei. Früher haben die Ordnungshüter gegen ein Trinkgeld oft die Augen zugemacht, aber inzwischen zeigen sie kein Erbarmen mehr. Kenner führen das auf den Einfluss der Europäischen Union zurück, die die nordafrikanischen Länder offenbar dafür bezahlt, den Immigrantenstrom schon vor der Küste abzufangen.

Wer verhaftet wird, bleibt wochen- und monatelang im Gefängnis, um dann wieder an die südliche Grenze gebracht zu werden. Das bedeutet Tage in unerträglicher Hitze, ohne Essen und Trinken. Aber ein Zurück in die Heimat gibt es nicht. Der nächste Ort ist oft hunderte Kilometer durch die Wüste entfernt. Die einzige Alternative bleibt ein neuer, verzweifelter Versuch, sich an die Küste durchzuschlagen. Mit etwas Glück findet sich dort oder unterwegs eine Gelegenheitsarbeit. Ansonsten sind Drogenhandel und Kleinkriminalität für die Jungen, Prostitution für die Mädchen die einzigen Überlebensmöglichkeiten. Aber wieviele junge Menschen sind es überhaupt, die sich auf diesen großen Treck ins gelobte Land machen? Zuverlässige Statistiken gibt es nicht. Allein an der algerisch-marokkanischen Grenze werden pro
Jahr über 10 000 Afrikaner verhaftet und zurückgeschickt. Kenner gehen dabei davon aus, dass maximal einer von vier oder fünf illegalen Immigranten aufgegriffen wird was bereits für diesen begrenzten Raum die Zahl von 45 000 bedeuten würde.
Wie viele es davon schließlich an die marokkanische Küste schaffen und die riskante Bootsfahrt nach Europa überleben, weiß niemand.

Wolfgang Schonecke
Netzwerk Afrika Deutschland

Veröffentlicht in "Die Tagespost" 28.07.2003

 

Leicht gekürzt mit freundlicher Genehmigung nach den Internetseiten von Netzwerk Afrika Deutschland.de

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