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Die geographischen Seiten des TLG

Rede von Bundespräsident Horst Köhler
vor der Afrikanischen Union in Addis Abeba

15.12.2004
Addis Abeba


Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

I.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir die Gelegenheit geben, heute zu Ihnen zu sprechen. Es ist mir sehr wichtig, an diesem für die afrikanische Entwicklung so zentralen Ort das Wort zu ergreifen.

Erlauben Sie mir, zunächst zu sagen, worüber ich nicht reden möchte. Ich bin nicht hergekommen, um Ihnen gegenüber erneut darzulegen, wie wichtig es ist, dass Afrika seinen eigenen Weg findet. Das wissen Sie selbst viel besser als ich. Und ich bin vor allem nicht hergekommen, um Ihnen wohlfeile Ratschläge zu geben. Ich möchte Ihnen vielmehr einige Grundüberlegungen vortragen, die mir für die Zukunft Afrikas und für die Zukunft meines eigenen Landes wichtig zu sein scheinen. Und ich bin gekommen, um zu zuhören und um Fragen zu stellen, denn ich bin davon überzeugt, dass wir eine echte Partnerschaft nur in einem Dialog entwickeln können.

II.
Seit ich zum ersten Mal den Fuß auf afrikanischen Boden gesetzt habe, fasziniert mich dieser Kontinent. Er lässt mich nicht mehr los. Aus diesem Grund war es mir ein ganz persönliches Anliegen, die erste Reise als Präsident der Bundesrepublik Deutschland, die mich über die Grenzen Europas hinausführt, nach Afrika zu machen. Wir leben heute in einer globalisierten Welt, in der wir eine gegenseitige Verantwortung haben, und Afrika ist ein Teil davon.

Ich glaube an die Zukunft Afrikas. Ich weiß aber auch, dass dieser Glaube unter der weitverbreiteten Krankheit vieler Europäer leidet, die sich mit Afrika befassen: der Überzeugung, nach ihren eigenen, drängenden Zeitvorstellungen handeln zu müssen. Ich gebe zu: Ich fühle mich angetrieben von einer "Ungeduld des Herzens". Diese Eile muss ja auch nicht unbedingt schlecht sein, wenn es darum geht, dem Hunger entgegenzutreten oder einen Konflikt beizulegen.

Mir ist bewusst, dass Afrika seinen eigenen Charakter hat. Das ist für mich ein Teil des Reichtums dieses Planeten. Ich akzeptiere es aber nicht, wenn dieser eigene Charakter als Vorwand und als Freibrief für Unrecht und Drangsalierung der eigenen Bevölkerung herangezogen wird. Dieses festzustellen ist keine neokoloniale Einmischung, sondern eine weltbürgerliche Verpflichtung. Diese weltbürgerliche Verpflichtung gilt im Übrigen auch für Sie alle: Ich halte es für ganz normal, dass auch Sie Defizite, Fehleinschätzungen und Missverständnisse bei uns offen ansprechen. Diese Offenheit auf beiden Seiten ist für mich ein wesentliches Element von echter Partnerschaft.

III.
Zu dem neuen afrikanischen Weg, wie er in der Afrikanischen Union und in NePAD, aber auch den Regionalorganisationen zum Ausdruck kommt, ist schon viel gesagt worden - Lobendes und Mahnendes, Forderndes und Abwiegelndes. Allein die Tatsache, dass Sie selbst Ihre eigenen Konzepte für Afrika entwickelt haben, halte ich für besonders bedeutsam. Das zeigt Einsicht in die Notwendigkeit und ist zugleich Ausdruck von Selbstbestimmung: Wir nehmen unser Schicksal selbst in die Hand und wir schaffen es. Es sind Ihre Konzepte, und ich ermutige Sie, mit ihnen die Zukunft Ihres Kontinents zu gestalten. Dazu gehört in besonderer Weise die Bereitschaft, sich gerade auch bei den akuten Sicherheitsfragen des Kontinents der afrikanischen Eigenverantwortung bewusst zu sein. In diesem Zusammenhang interessiert mich, wo Sie dabei die wichtigsten Aufgaben der Unterstützung durch die G8 und durch die Internationale Gemeinschaft insgesamt sehen.

Zu dem Weg, den Sie einschlagen wollen, gehört auch der innovative Gedanke der gegenseitigen Bewertung des Regierungs­handels, des African Peer Review Mechanism. Das eröffnet die Chance, voneinander zu lernen. Ich wünschte mir manchmal, auch in Europa würden die dortigen Reformanstrengungen unter stärkerer Nutzung eines Peer Review Mechanism vorangebracht. Ich erwarte mit Spannung die ersten Ergebnisse dieses Prozesses. Und hätte gerne Ihre Einschätzung dazu.

IV.
Wenn Afrika von manchen immer noch als Krisenkontinent angesehen wird, so hat das natürlich seine Gründe. Bei den Geißeln der Menschheit, von denen Afrika in besonderem Maße betroffen ist, stehen HIV/AIDS und Malaria an erster Stelle. Zum Glück wird für die Bekämpfung dieser Krankheiten jetzt endlich einiges getan. Doch wenn ich sehe, dass in einzelnen Staaten Afrikas für einen Arbeitsplatz zwei oder drei Personen eingestellt werden müssen, weil krankheitsbedingt von vornherein von einer Ausfallrate von zwei Dritteln ausgegangen werden muss, dann weiß ich, dass bei weitem nicht genug getan wird. Weitere Hilfe ist dringend nötig, und das Geld hierfür muss zusätzlich aufgebracht werden - zusätzlich zu dem, was erforderlich ist, um der wirtschaftlichen Entwicklung Afrikas den notwendigen Anschub zu geben. Hilfe kann aber nicht allein in Geld bestehen. Gerade das Beispiel HIV/AIDS zeigt, dass noch mehr Information und Aufklärung zur Prävention erforderlich sind.

Leider sind in vielen Ländern bewaffnete Auseinandersetzungen immer noch Teil des afrikanischen Alltags. Sie sind nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation nicht weniger geworden. Der Völkermord in Ruanda vor zehn Jahren ist nicht vergessen. Zügellose, restlos enthemmte Banden, die häufig aus drogenabhängigen Kindern bestanden, haben in Sierra Leone eine Gewaltorgie gefeiert. Ich bin vor wenigen Tagen, wie Sie wissen, dort gewesen und habe mir ein Bild davon machen können, mit welchem ungeheuren Aufwand und mit welchem Mut die Menschen in Sierra Leone daran gehen, die Traumata der Vergangenheit zu überwinden. Die in Afrika entwickelten Versöhnungskommissionen, die die ureigene afrikanische Vorstellung von Dialog und Versöhnung nach einem Konflikt in die politische Praxis umsetzen, werden hoffentlich auch hier eine hilfreiche Rolle spielen können. Im Konflikt im Bereich der Großen Seen, vor allem im Osten der Demokratischen Republik Kongo, haben in den letzten Jahren bis zu drei Millionen Menschen ihr Leben verloren, und selbst Experten haben es heute schwer, die eigentlichen Frontlinien in diesen Auseinandersetzungen zu definieren.

Zwei weitere spezielle Krisenherde beschäftigen uns derzeit in ganz besonderer Weise: die Vorgänge in Darfur und in Côte d'Ivoire. In Darfur sind viele Menschen getötet, unzählige vertrieben und obdachlos gemacht worden. Die Afrikanische Union hat jetzt beschlossen, einzuschreiten. Ich halte das für richtig. Diese Entscheidung ist ein klares Signal dafür, dass die Afrikanische Union auch im Sicherheitsbereich ihrer Verantwortung gerecht werden will. Ich freue mich, dass auch die Europäische Union bereit ist, die Friedensmission der AU finanziell und materiell zu unterstützen und auch logistische Hilfestellung zu leisten. Daran sind auch deutsche Soldaten beteiligt. In Darfur kommt der Einsatz aber leider relativ spät; Vertreibungen, Vergewaltigungen und Morde können dadurch nicht ungeschehen gemacht werden.

In Côte d'Ivoire hat der Bürgerkrieg ab Anfang November eine dramatische Wendung genommen. Mit Entsetzen sehe ich, wie hier die Stabilität einer ganzen Region leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird. Ich bin sehr besorgt darüber, dass Aufrufe zum Hass und zur Gewalt wieder in der Tagespolitik Platz zu greifen beginnen. Ich begrüße das vermittelnde Eingreifen der AU und rufe die betroffenen Parteien auf, dem Ratschlag der AU zu folgen.

Wir müssen uns überlegen, wie solche krisenhaften Entwick­lungen frühzeitig erkannt und politisch verhindert werden können. Prävention mag teuer erscheinen und der Erfolg schwer messbar sein, dennoch sind die Kosten eines Krieges unvergleichlich höher, ganz zu schweigen vom menschlichen Leid. Wir müssen jetzt mit Afrika und mit Hilfe der UN klären, in welchen Fällen ein Eingreifen politisch notwendig und legitim ist und wann nicht. Wir müssen darüber sprechen, wie wir im Dialog dazu kommen können, Prinzipien festzulegen, die Interventionsentscheidung transparent machen und damit den Verdacht der Zufälligkeit, Willkür oder auch des Neokolonialismus gar nicht erst aufkommen lassen.

Die konstituierende Akte der Afrikanischen Union beantwortet die Frage nach der Zulässigkeit einer humanitären Intervention eindeutig mit Ja. Das ist ein Meilenstein von historischer Bedeutung. Ich begrüße es, dass die Afrikanische Union damit die völkerrechtliche Diskussion über die Legitimität des humanitären Eingreifens einen wichtigen Schritt vorangebracht hat.

Bewaffnete Konflikte haben meist mehr als nur eine Ursache. Leider spielt häufig die Frage des Zugangs zu Rohstoffen eine große Rolle, die auf den Märkten der Welt hohe Preise erzielen. In der Vergangenheit hat sich dieser Reichtum in vielen Fällen nicht als Segen, sondern als Fluch erwiesen - die Konfliktdiamanten, die den Bürgerkrieg in Angola oder die Auseinandersetzungen in Westafrika maßgeblich finanziert haben; Erdöl als Konfliktstoff an weiten Teilen des Golfs von Guinea; der Abbau von Coltan oder die rücksichtslose Nutzung wertvoller Tropenhölzer im Osten der Demokratischen Republik Kongo sind dafür traurige Beispiele. Wo sind die Einkünfte aus diesen wertvollen Rohstoffen geblieben? Haben die Verantwortlichen in den betroffenen Staaten immer vorrangig das Gemeinwohl im Auge anstelle ihrer eigenen Interessen? Aber es gilt auch hier: Ohne willige Abnehmer gibt es für diese Rohstoffe keinen Markt. Wichtig ist daher auch ein Verhaltenskodex für nationale und multinationale Unternehmen für den Handel mit Konflikt-Rohstoffen. Das Bemühen um die Zertifizierung von Diamanten im Rahmen des Kimberley-Prozesses hat schon erste Erfolge gezeigt. Und ich setze große Hoffnungen in die vielfältigen Ansätze der "publish what you pay"-Initiative. Hier arbeiten Nichtregierungsorganisationen und staatliche Akteure einschließlich der G8 eng zusammen, um den illegalen Handel mit Rohstoffen, aber auch die Korruption zurückzudrängen.

V.
Zum Glück ist inzwischen weitgehend unbestritten, dass gute Regierungsführung und Eigenverantwortung für die Wirtschaft und die soziale Entwicklung eines Landes die zentrale Rolle spielen. Sie dürfen aber nicht nur rhetorische Forderungen sein, sondern müssen sich im Regierungs- und Verwaltungshandeln niederschlagen. Von besonderer Bedeutung dabei ist, dass die Bevölkerung sowohl an den politischen Entscheidungsprozessen als auch an der wirtschaftlichen Entwicklung und an dem wirtschaftlichen Reichtum eines Landes teilhaben kann.

Das müssen wir immer wieder einfordern. Aber wir müssen auch bereit sein, Teilhabe zu gewähren, etwa im internationalen Rahmen. So bin ich der Ansicht, dass Afrika in den internationalen Institutionen eine stärkere Stimme haben muss. Das müssen wir zum Beispiel bei der überfälligen Reform des Sicherheitsrates der UN berücksichtigen.

VI.
Die Konstituierende Akte der Afrikanischen Union nennt in Artikel 3 als eines ihrer Ziele die "Schaffung der notwendigen Bedingungen, damit der Kontinent seine rechtmäßige Rolle in der Weltwirtschaft und in internationalen Verhandlungen führen kann". NePAD fordert in Ziffer 154: "Erste Priorität ist die Korrektur des Vorstellungsbildes der Investoren von Afrika als 'Hochrisiko-Kontinent', besonders was die Sicherung der Eigentumsrechte, den Regulierungsrahmen und die Märkte betrifft". Die Verfasser dieser Sätze haben die Zeichen der Zeit erkannt. Fortschritte hier sind der Schlüssel für mehr Investitionen aus dem In- und Ausland. Jedes Land ist für sich gefordert, diese Vorgaben im Rahmen seiner spezifischen Verhältnisse umzusetzen. Deshalb interessiert es mich, ob NePAD wirklich in jedem Land schon hinreichend definiert und umgesetzt ist - in jedem Ministerium, auf jeder Ebene der Verwaltung und in jedem Dorf.

VII.
Die UN kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Millenniumsziele nicht erreicht werden können, wenn nicht mehr Geld zur Verfügung gestellt wird. Das ist zweifellos richtig. Länder, die das 0,7-Prozent-Ziel noch nicht erreicht haben, müssen nachlegen. Das gilt auch für Deutschland. Allerdings machen die Sonderlasten, die durch die Wiederherstellung der deutschen Einheit auf uns zugekommen sind, die Erreichung dieses Zieles für uns besonders schwer. Ich hoffe aber und ich werbe dafür, dass Deutschland trotz der engen finanziellen Spielräume seine jährliche Entwicklungshilfe schrittweise steigert. Gleichzeitig muss ich Ihnen aber auch sagen, dass die Bereitschaft unserer Steuerzahler, sich stärker in der Entwicklungszusammenarbeit zu engagieren, auch davon abhängt, dass sie wissen, dass ihr Geld gut angelegt und nicht zweckentfremdet wird. Hier sind die Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, vor allem aber die Afrikaner selbst gefordert, dafür zu sorgen, dass keine Zweifel entstehen können. Und hier müssen wir auch gemeinsam darauf achten, dass sich die Empfängerländer durch die Annahme von Geldern nicht selbst Hindernisse für den Aufbau einer eigenverantwortlichen Gesellschaft schaffen.

Mir ist bewusst, dass viele afrikanische Staaten immer noch schwer an der Last ihrer Schulden tragen. Das Interesse dieser Länder an Schuldenerlass ist verständlich, in vielen Fällen auch begründet. Ich will Sie aber auch auf eine Gefahr aufmerksam machen, wenn Schuldenerlass und Kreditaufnahme als automatische Prozesse in einem natürlichen Zyklus verstanden werden. Bedenken Sie bitte, dass Kredit vom lateinischen credere kommt - von vertrauen, von Vertrauenswürdigkeit. Es liegt in Ihrem Interesse, eine Kreditkultur aufzubauen, die den Afrikanern auf Dauer ermöglicht, auch private Kredite zu bekommen. Dies setzt voraus, dass die privaten Kreditgeber darauf vertrauen können, dass sie ihr Geld zurückerhalten. Wenn Sie diese Kreditkultur nicht aufbauen, wird es womöglich nie gelingen, die Mittel zu bekommen, die langfristig für die Überwindung der Armut unverzichtbar sind.

Am Ende meiner Afrika-Reise habe ich insgesamt den Eindruck gewonnen, dass ein positiver Prozess der notwendigen Veränderungen und Initiativen in Gang gesetzt worden ist. Das betrifft auch den Kampf gegen die Armut, selbst wenn ich die Sorge habe, dass dieser Prozess noch immer zu langsam vonstatten geht - und zwar auch wegen des Mangels an Arbeitsplätzen im privaten Sektor.

Lassen Sie mich hier die Rolle der afrikanischen Frauen in besonderer Weise hervorheben. Ich habe sie als Parlamentsmitglieder, als hohe Richterinnen, als Initiatorinnen von Kleinkreditvorhaben und als Unternehmerinnen kennengelernt. Und wir alle wissen, wie unermüdlich sie gleichzeitig für ihre Familien sorgen. Sie verdienen noch mehr offizielle Unterstützung, und ich bin davon überzeugt, dass es im Interesse Afrikas liegt, sie im öffentlichen Leben eine größere Rolle spielen zu lassen - nicht zuletzt in Parlamenten und Regierungen.

VIII.
Auf den Landkarten des 18. Jahrhunderts wurden Teile Afrikas, von denen in Europa niemand eine genauere Kenntnis hatte, bisweilen einfach mit den Worten beschrieben: Hic sunt leones - hier gibt es Löwen, hier ist es gefährlich, und keiner weiß, wie es genau hier aussieht. Daraus sprach eine gewisse Angst vor dem Unbekannten. Heute wäre Hic sunt leones eine gute Werbung für den Fremdenverkehr. Für viele Menschen in meiner Heimat ist Afrika aber leider immer noch ein unbekannter Kontinent. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass die Kenntnis über Afrika nicht mehr hauptsächlich über Hungerkatastrophen oder Asylsuchende, über Bürgerkriegsberichte und Kindersoldaten nach Norden dringt. Wir müssen erkennen und politisch danach handeln, dass wir mit Afrika in einer Welt leben, in der jeder Verantwortlichkeiten hat, aber auch die Chance zu einem Leben in Frieden und sozialer Sicherheit erhalten muss. Afrika ist die Wiege der Menschheit, Afrika hat der Welt schon viel gegeben - was wäre die heutige Musik, die Bildende Kunst, die Weltliteratur ohne den Anteil, den Afrika daran hat? Ich bin fest davon überzeugt, dass Afrika uns noch viel mehr zu geben hat. Von einer echten Partnerschaft können wir alle nur profitieren.

 

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