10
Jahre Demokratie in Südafrika
Am 27. April 2004 feiert Südafrika 10 Jahre Demokratie. Kurz zuvor
ging der ANC - die frühere Befreiungsbewegung - erneut als Sieger
der Nationalwahlen hervor und wurde dadurch gestärkt. Nelson Mandela,
den das menschenverachtende Apartheidregime 27 Jahre lang einkerkerte,
ist das Symbol der südafrikanischen Befreiung und repräsentiert
ein 'Happy End' mit Versöhnung.
Doch gilt das für alle Südafrikaner und Südafrikanerinnen?
Wie weit hat sich Südafrika in den letzten zehn Jahren verändert?
Vor welchen Herausforderungen steht das Land?
Ausgangsbedingungen waren 350 Jahre Kolonialismus und ein rassistisch
organisiertes kapitalistisches System, das 46 Jahre lang die Spaltung
der Gesellschaft im Interesse einer weißen Minderheit festschrieb.
Anfang der 90er Jahre war dieses System der 'Apartheid' aufgrund massiven
Widerstands, internationaler Isolierung und ökonomischer Stagnation
so unter Druck geraten, dass die weiße Regierung mit dem ANC Verhandlungen
aufnahm.
In zähen Runden zwischen 1990 und 1993 wurde der politische Kompromiss
geschmiedet, der den Übergang zur Demokratie ermöglichte. Doch
bestimmte Bedingungen hatte sich das alte Regime vorbehalten: keine Änderung
der Eigentumsrechte, keine Entlassung Staatsbediensteter, Amnestie für
Menschenrechtsverbrechen während der Apartheid.
1994 gab es die ersten demokratischen Wahlen, aus denen der ANC in politischer
Allianz mit den Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei als überwältigender
Sieger hervorging. Nelson Mandela wurde erster schwarzer Präsident,
Thabo Mbeki folgte ihm fünf Jahre später.
Die neue Verfassung trat 1996 in Kraft. Sie verankert nicht nur bürgerliche
und politische sondern auch wirtschaftliche und soziale Menschenrechte,
wie das Recht auf Gesundheit, Bildung und Wohnen. Zu ihrem Schutz wurden
zahlreiche Institutionen und Richtlinien geschaffen, ein nationaler Aktionsplan
leitet die Umsetzung in den verschiedenen Sektoren. So wird versucht,
die Apartheidstrukturen zu überwinden und beispielsweise das Bildungs-
und Gesundheitssystem für alle zu öffnen. Die HIV/AIDS Epidemie
stellt dabei eine riesige zusätzliche Herausforderung dar.
Aus der Amnestievorgabe entwickelte
sich die Wahrheits- und Versöhnungskommission, die einen einzigartigen
Prozess in die Wege leitete. Sie bot den Apartheidopfern eine öffentliche
Plattform und den Tätern nur gegen Offenlegung der Wahrheit Amnestie.
Von 1995 bis 1998 wurden 20 000 Zeugenaussagen und 7000 Amnestieanträge
entgegengenommen, in allen Medien gab es ausführlich und regelmäßig
Berichte über die Anhörungen. Auf diese Weise wurde allen Südafrikanern
der Gewaltcharakter des Apartheidregimes sichtbar gemacht und die Fiktion
eines "zivilisierten" Systems zerstört. Damit trug die
Kommission zur Schaffung einer nationalen Identität und zur Bannung
der Gewalt bei.
Ausgespart blieb dabei eine
Auseinandersetzung mit der Rolle der vormals privilegierten weißen
Minderheit: Fragen nach der Ressourcenverteilung, nach den Nutznießern
und den ökonomischen Folgen der Apartheid wurden nicht nachdrücklich
gestellt. Die Opfer bekamen erst nach hartnäckigen, langjährigen
Kämpfen bescheidene Entschädigungen in Aussicht gestellt. Internationale
Profiteure des Systems wie Banken und Unternehmen wurden nie zur Rechenschaft
gezogen. "In mancherlei Hinsicht war die Wahrheitskommission auch
eine bequeme Abkürzung, man hatte ein öffentliches Bild Vergangenheit
und musste sich nicht mit der eigenen Komplizenschaft beschäftigen,”
kommentiert Graeme Simpson, der Direktor des Centre for the Study of Violence
and Reconciliation.
Die sozialen und ökonomischen
Folgen der Apartheid sind die eigentlichen Herausforderungen für
die neue Demokratie. 1995 lebten nach offiziellen Statistiken 48 Prozent
der Bevölkerung unter der Armutsgrenze – die allermeisten davon
gehören zur schwarzen Bevölkerungsmehrheit. 1994 führte
die neue Regierung ein umfassendes Entwicklungsprogramm ein, das RDP (Reconstruction
and Development Programme), das sich einem Wachstum durch Umverteilung
verpflichtet sah und wachsende öffentliche Programme plante. 1996
wurde dieses Programm durch GEAR (Growth, Employment and Redistribution)
ersetzt, einem selbstauferlegten Strukturanpassungsprogramm neoliberaler
Ausrichtung, das über Ausgabenbegrenzung, Privatisierung von Dienstleistungen
und Liberalisierung von Handelsbeziehungen ein marktgesteuertes Wachstum
fördern wollte. Bis heute gibt es heftige Debatten darüber,
was die Regierung veranlasst hat, diese Wende vorzunehmen und welche Folgen
sie hat. Die selbstgesteckten Ziele konnte GEAR jedenfalls bisher nicht
einhalten. Trotz moderaten Wirtschaftswachstums gab es keinen Zuwachs
an Arbeitsplätzen, im Gegenteil gingen durch die Integration Südafrikas
in die globalisierte Ökonomie fast eine halbe Million Arbeitsplätze
verloren. Die Privatisierungspolitik und die engen Budgetvorgaben haben
zudem die Schere zwischen privatem und öffentlichem Sektor vergrößert
und große Proteste wie zum Beispiel beim Umbau der Wasserversorgung
provoziert. Die Einführung einer Regelung zur Kostendeckung, nach
der Wasser nur gegen Zahlung über Chipkarten abgegeben werden sollte,
führte zu Boykotten, Gewaltausbrüchen und Anfang 2002 zu einem
größeren Choleraepidemie, weil die Menschen das saubere Wasser
nicht bezahlen konnten. Die Verwaltung musste dieses System wieder zurücknehmen
und stellte eine Grundversorgung frei.
Südafrika gehört
neben Brasilien zu den Ländern mit den extremsten Einkommensunterschieden
und die Bestverdiener sind weiterhin weiße Männer. Zwar hat
die Black Empowerment Politik einen Einbruch in diese Domäne geschaffen
und einer kleinen schwarzen Elite einen rasanten Aufstieg ermöglicht,
aber die Kluft zwischen Armen (Schwarzen) und Reichen (Weißen) ist
sogar gewachsen: Zwischen 1995 und 2000 gingen die Einkommen schwarzer
Haushalte um 19 Prozent zurück, während die der Weißen
im selben Zeitraum um 15 Prozent stiegen. Die Gewinner dieser Entwicklung,
ob schwarz oder weiß, wollen jedoch die Verschlechterung der Situation
für die Mehrheit der Bevölkerung sehr oft nicht wahrhaben, wie
Graeme Simpson schreibt.
In einer kürzlich von der Regierung in Auftrag gegebenen Studie wird
von zwei Wirtschaften gesprochen, die nebeneinander existieren, einer
hochentwickelten, wettbewerbsfähigen und einer informellen, marginalisierten.
Die Regierung hat als ihre Herausforderung für die nächsten
Jahrzehnte anerkannt, diese Parallelwirtschaften so zu verbinden, dass
sich die materiellen Lebensbedingungen für die Mehrheit wirklich
verbessern.
Ansonsten droht eine Aufkündigung
des Versöhnungskonsenses. Die hohe Kriminalität ist schon jetzt
Ausdruck einer Überlebensökonomie, die aus den unbearbeiteten
Folgen der Apartheidgewalt resultiert. Die fortdauernden Trennungen zwischen
ethnisch definierten Gruppen und sozialen Klassen, die Entmenschlichung,
die die Apartheid in den Individuen und den sozialen Beziehungen hinterlassen
hat, haben dauerhafte Spuren hinterlassen. Soziale Gerechtigkeit muss
in Versöhnungsprozessen mitgedacht werden. Für viele junge schwarze
Südafrikaner aus den Townships bedarf es großer Anstrengung,
sich angesichts fehlender Perspektiven nicht in die Gewalt zu fliehen,
um ihre Probleme zu lösen. Sie brauchen Unterstützung, wie sie
zum Beispiel Sinani, Programme for Survivors of Violence und andere Nichtregierungsorganisationen
anbieten. Und eine wache, lebendige Zivilgesellschaft, die sich nicht
scheut, auch kritisch mit der eigenen Regierung umzugehen, um sicherzustellen,
dass die Interessen der Armen Gehör finden.
Zehn Jahre Demokratie sind
eine kurze Zeit."Die Transformation der südafrikanischen Gesellschaft
ist ein langwieriger Prozess,” sagte Zandile Nhlengetwa, Direktorin
von Sinani, und betont gleichzeitig: "Ich jedenfalls möchte
um keinen Preis dahin zurück, wo wir herkommen”.
Usche Merk
Usche Merk ist Projektkoordinatorin
und langjährige Südafrikareferentin bei medico international
Text mit freundlicher
Genehmigung von
(Hier gibt es noch mehr Informationen -> siehe medico-Rundschreiben)