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Indien - eine Einführung

(aus: U. Fürst: Die traditionellen "personal laws" als Herausforderung für den indischen Säkularstaat. S. 1-6.
Magisterarbeit, LMU München 1996)

Indien, das mit 3,28 Mio. qkm fast kontinentale Dimensionen erreicht und seiner Bevölkerungszahl nach das zweitgrößte Land der Erde ist, stellt sich für den Beobachter als eine Nation größter Vielfalt dar.
Die gewaltige Größe des Subkontinents bedingt, dass sich dort nahezu alle Klimazonen der Erde wiederfinden. Von den Hochgebirgsregionen des Himalaja über die Wüste Rajastans, von den fruchtbaren Ebenen im Punjab bis zur kargen Hochebene im südlichen Teil des Landes bietet Indien ein Bild, wie es gegensätzlicher kaum sein könnte.

Doch nicht nur die indische Landschaft, auch die ethnischen und religiösen Bedingungen zeichnen sich durch eine außerordentliche Variationsbreite aus, weshalb die grundsätzliche Aufgabe jeder indischen Regierung darin besteht, in dieser pluralistischen Gesellschaft eine Politik des Ausgleichs zu betreiben, um auftretenden Spannungen wirksam entgegentreten zu können.

Wie kein anderes Land ist Indien in zahllose Religions-, Kultur- und Sprachgruppen unterteilt. Die außergewöhnlich heterogene Gesellschaft findet beispielsweise ihren Ausdruck im Festschreiben 14 weiterer Regionalsprachen in der indischen Verfassung, neben der Staatssprache Hindi und dem assoziierten Englisch, sowie der Existenz hunderter weiterer Lokalsprachen und weit über Tausend unterschiedlicher Dialekte.

Fast alle großen Religionen der Erde finden sich auf dem indischen Subkontinent wieder. Hindus unterschiedlicher Art (82,7%), Muslime sunnitischer und shiitischer Richtung (11,2%), Christen fast aller Konfessionen und Ritengruppen (2,6%), Sikhs (1,9%), Buddhisten (0,7%), Jainisten (0,5%), Parsis (ca. 140000) und Juden (ca. 10000) bilden die Summe von über 950 Millionen Indern.

Die Fragmentierung der indischen Gesellschaft hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Gestalter der indischen Verfassung, neben iher Option für die Demokratie, auch die Trennung von Politik und Religion, mit anderen Worten den Säkularismus, als eine der staatstragenden Säulen der unabhängigen indischen Republik gewählt haben. Nur eine Staatsform, die den Säkularismus als Institution des Kompromisses anstrebte, konnte einen politischen Frieden schaffen, der es jeder Religionsgemeinschaft erlaubte, sich im Staat wiederzuerkennen.

Doch gerade die Konzeption eines auf die indischen Bedürfnisse zugeschnittenen Säkularismus, birgt eine bis dato ungelöste Problematik in sich. Sowohl der traditionelle Hinduismus als auch der traditionelle Islam, die gemeinsam über 90% der indischen Bevölkerung ausmachen, sind weit mehr als Religionen in unserem heutigen westlichen Verständnis.

Sowohl der Hinduismus als auch der Islam stellen vielmehr eine Art zu leben dar, jede Handlung der menschlichen Existenz wird durch detaillierte Regeln vorgeschrieben, die großen Ereignisse ebenso wie die alltägliche Routine. Aber nicht nur die sozialen Beziehungen werden durch die Religion bestimmt. Die Geschichte gibt Aufschluss darüber, dass der Herrscher weder im Hinduismus noch im Islam legislative Funktionen ausübte. Das Recht war im Ganzen vorhanden, niedergelegt in den heiligen Texten, die seit undenklichen Zeiten in Gebrauch waren. Der Staat hatte in einem Prozess, in dem Veränderungen des Rechts durch religiöse Autoritäten vorgenommen wurde, keine gesetzgebende Funktion. So erscheint es selbstverständlich, dass auch das gesamte Gebite des Straf-und Zivilrechts ursprünglich Teil des religiösen Rechts war.

Mit dem europäischen Imperialismus und dem damit einhergehenden westlichen Einfluss, begannen drastische Veränderungen auch in das komplizierte Rechtssystem Indiens zu ziehen.

Das Trauma der Teilung des Landes in Indien und das islamische Pakistan, verstärkte die Überzeugung der indischen Politiker dieser Zeit, dass die Religion in der zukünftigen indischen Republik kein entscheidender politischer Faktor mehr sein dürfe. Deshalb versuchte man nach Erreichung der Unabhängigkeit, diesen Prinzipien durch Umsetzung in die zukünftige Verfassung des Landes gerecht zu werden [drei Komponenten: Religionsfreiheit, Recht auf Gleichheit, Trennung von Religion und Staat].

Solange die Kogresspartei, als Träger der indischen Säkularidee, erfolgreich ihre Politik des Konsens aller Gesellschaftsschichten verfolgte, befand sich das innenpolitische System in relativ hoher Stabilität. Der Tod Nehrus zeigte jedoch, dass es weniger der Kongresspartei, als der integrativen Persönlichkeit Nehrus zu verdanken war, dass kommunalistische, anti-säkulare Bestrebungen, eher die Ausnahme bildeten. Seit dieser Zäsur lässt sich beobachten, dass die Kongresspartei als vormaliger Garant für die Säkularstaatlichkeit und damit für den sozialen und religiösen Frieden in Indien mehr und mehr versagt.

Die innenpolitische Entwicklungen seit Mitte der achtziger Jahre zeigen, dass der Krise des Säkularismus in Indien, wie beispielsweise das Erstarken hindu-radikaler Parteien und Gruppierungen zeigt, rein sachlich die Krise des politischen Systems voraus gegangen ist. Die Instrumenatlisierung religiöser Konflikte durch politische Parteien, also die Aufgabe des Prinzips der Nichteinmischung in religiöse Angelegenheiten hat bewirkt, dass das komplexe, sensible politische System so instabil wi nie zuvor seit Erlangung der Unabhängigkeit geworden ist. [...]

[...] der Wahlsieg der BJP [, einer hindu-radikalen Partei] ist nur das vorläufige Ende einer vielschichtigen Entwicklung, die ihre Wurzeln bereits in der Konzeption der indischen Verfassung hat. Diese beinhaltet das Dilemma, dass in ihr sowohl Individual-, als auch Gruppenrechte manifestiert sind. Art 26(b) garantiert den einzelnen Konfessionen, ihre religiösen Angelegenheiten selbst zu regeln. Die Rechtspraxis des Landes zeigt, dass die Auslegung des kollektiven Rechts auf Religionsfreiheit, weit über die westliche Interpretation des Begriffs hinaus geht. Während man im westlichen Kulturkreis unter diesem Begriff hauptsächlich das finanzielle Selbstbestimmungsrecht, die "Verwaltung der Sakramente" oder die "Unterweisung der Gläubigen" versteht, impliziert die indische Auffassung bis heute die Anwendung der traditionellen Personal Laws. Dieser Umstand ist sowohl unter dem Gesichtspunkt des Säkularismus als auch unter dem der Menschenrechte als äußerst kritisch zu betrachten.

Der Terminus Personal Law umfasst die jeweiligen Bestimmungen einer religiösen Gemeinschaft in den Bereichen Heirats-, Scheidungs-, Unterhalts-, Vormundschafts-, Adoptions-, Erbschafts- und Eigentumsrecht. Ein Personal Law existiert für die größeren religiösen Gemeinschaften der Hindus, Moslems, Christen und Parsis. [...]

Bürger der indischen Republik werden demnach in den erwähnten Rechtsbereichen nicht als Individuuen, sonder als Mitglieder einer bestimmten religiösen Gruppe behandelt. Diese Rechtspraxis führt das in der indischen Verfassung manifestierte Recht auf Gleichheit (Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 14)) und Verbot von Diskriminierung u.a. aufgrund der Religion (Art. 15(1)) ad absurdum.

Doch nicht nur der generelle Gebrauch der Personal Laws läuft dem Gleichheitsgebot des Verfassung zuwider. Auch auf der Ebene der Personal Laws selbst, werden Gestze praktiziert, die gegen zahlreiche in der Verfassung verbriefte Grundrechte (Fundametal Rights) verstoßen. Verma [ein indischer Rechtskommentator] meint hierzu, dass die charakteristische Gemeinsamkeit dieser Personal Laws darin liegt, dass sieauf eklatante Weise Frauen benachteiligen.

Die "Väter" der indischen Republik waren dich dieses Widerspruchs sehr wohl bewusst. In Art. 44 der Directive Principles of State Policy, einem Teil der indischen Verfassung der einen Katalog von Staatsszielen beinhaltet, die zum Zeitpunkt der Verhandlunge in der Verfassungskommission nicht konsensfähig waren oder deren Durchführung einen längeren Zeitrahmen erforderte, wird die Regierung Indiens dazu aufgefordert, ein für die gesamte Bevölkerung geltendes Zivilrecht zu schaffen - eine Forderung, die jedoch bis heute nicht [...] umgesetzt wurde.

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